CORPORATE FINANCE
Zukunftsfähigkeit durch Zukunftspotenziale
– „German Angst“ darf nicht entscheidend in der Steuerung und Kontrolle deutscher Unternehmen sein! –

Zukunftsfähigkeit durch Zukunftspotenziale

– „German Angst“ darf nicht entscheidend in der Steuerung und Kontrolle deutscher Unternehmen sein! –

Prof. Dr. Dirk Honold

Prof. Dr. Dirk Honold
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Immer wieder wird die Frage gestellt, ob es ein Witz ist, dass Tesla ohne jemals Gewinne erzielt zu haben, höher bewertet ist als mancher deutscher Automobilkonzern. Nein! Denn Kurse an Kapitalmärkten sind geprägt durch Erwartungen an die Zukunft und wie eine aktuelle Studie (siehe CF 2017 S. 44) belegt, auch durch das Denken in langfristigen Zukunftspotenzialen. Zukunftspotenziale stellen dabei den Anteil des Marktwerts dar, der sich nicht durch gegenwärtige, als nachhaltig unterstellte Jahresüberschüsse erklären lässt, sondern nur durch erwartete, künftige, darüber hinaus gehende Erfolge. Diese sind in den USA stärker und langfristiger ausgeprägt als in Deutschland! Im Fall von Tesla geht der Markt von sehr hohen Zukunftspotenzialen und somit langfristig hohen Gewinnen aus. Übertreibungen sind allerdings nicht ausgeschlossen.

Wundert es vor dem Hintergrund dieser Debatte dann, dass innovative Unternehmen und Start-Ups nur schwer ihre Zukunftspotenziale am deutschen Kapitalmarkt vermitteln können? Innovationsprojekte bestehen eben zu großen Teilen aus Zukunftspotenzialen aber eben auch aus gewinnmindernden Forschungs- und Entwicklungsaufwendungen, die das Eigenkapital belasten. Hohe Kaufpreise bei Übernahmen dagegen können zum Teil als testierter Goodwill die Bilanzsumme erhöhen und werden außer bei Sonderabschreibungen nicht zu Aufwendungen.

Dies lenkt den Blick auf die Bedeutung des Reporting im Entscheidungsprozess im Unternehmen. Für viele Marktteilnehmer ist eine konservative Bilanzierung gem. HGB mit dem zugrunde liegenden ausgeprägten Vorsichtsprinzip wichtig. Die Vermischung von Buch- und Zeit-/Marktwerten („Fair Values“) in einigen Bilanzgrößen nach IFRS, die häufig ermessensbehaftete künstliche Schätzung dieser Fair Values („mark-to-model“) und die vielfältig verschieden ermittelten EBIT- und EBITDA-Größen können eine nebulöse Sicht auf die nachhaltig erzielbaren Gewinne notierter Unternehmen erzeugen. So wundert es nicht, wenn an den Kapitalmärkten Werte aus den Bilanzen nur sehr begrenzt zur Bestimmung ihrer „fairen“ bzw. angemessenen Marktwerte verwendet werden. Auch die Marktwert-Buchwert-Lücke ist groß: Im DAX schwankt die Relation teilweise zwischen 0,25 bei Banken und über 4 bei wenig kapitalintensiven, ergebnisstarken Gesellschaften. Die Aussagekraft der bilanziellen Kennzahlen kann somit nur sehr bedingt bei der Wert- und Preisermittlung helfen.

Auch deshalb haben Residualgewinn-Konzepte mit Berücksichtigung von Eigenkapitalkosten zu Buchwerten wie z.B. EVA und CVA in den letzten Jahrzehnten vermehrt Eingang in die Steuerung und Kontrolle der Konzerne gefunden. Dabei werden teilweise auch Anpassungen der Buchwerte des investierten Kapitals an Marktwerte und bei F&E etc. vorgenommen. Aber entsteht dadurch bereits ein kompatibles Bild zu der Sicht der Kapitalmarktteilnehmer? Nein! Das Hässliche an EVA & Co ist schon lange bekannt: Die sich im Zeitablauf verändernden Zukunftspotenziale werden nicht erfasst. Bei sich wenig verändernden Märkten, Geschäftsmodellen etc. – also wenn alles eingeschwungen ist, wie man salopp formulieren könnte – und bei konstanten Zukunftspotenzialen, passen die Systeme. Bei sich stark verändernden Märkten, disruptiven Innovationen und neuen Geschäftsmodellen können wesentliche Wertlücken entstehen.

Dies sollte Anlass genug sein, die Bedeutung von Zukunftspotenzialen für das gesamte Reporting zu überprüfen. Der Jahresabschluss nach HGB und IFRS kann ein seriöser Ausgangspunkt sein, aber Steuerungs- und Kontroll-Systeme inkl. der Budgets und Planungen müssen Zukunftspotenziale mit einbeziehen. Andernfalls kann die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen gefährdet sein, denn die Systeme im Unternehmen würden u.U. richtige Zukunftsentscheidungen verhindern und anders ticken als der Kapitalmarkt: Investor Relations kann allein deswegen vor schwer bewältigbaren Aufgaben stehen (siehe Abb. 1 auf S. 275). In Konzernen können Zukunftspotenziale auch eine Brücke schlagen zwischen (Fremd-)Management und ihren Eigentümern bzw. Aufsichtsräten. Somit könnten sogar gewisse Vorteile von Familienunternehmern nutzbar werden: Denn starke Familienunternehmer können gegen die Reporting-Systeme in langfristigen Zukunftspotenzialen denken und somit zu Weltmarkführern wachsen. Dies ist unter Umständen von Managern in Konzernen nur schwer ohne Berücksichtigung von Zukunftspotenzialen möglich.

Deswegen müssen Zukunftspotenziale sowohl intern in den Reporting- und Controlling-Systemen sowie extern an den Kapitalmärkten und bei Eigentümern mehr anerkannt werden. Eine Würdigung durch entsprechend höhere Bewertungen der Unternehmen und Aktienkurse an Kapitalmärkten verbessert sogar die Finanzierungsmöglichkeiten/ -konditionen, sei es durch IPOs bzw. Kapitalerhöhungen oder spätere Exits von Eigenkapitalgebern wie auch VCs. Dahinter steht vielleicht sogar das Erfordernis eines kulturellen Wandels der Systeme: Denn einfach "weiter so" führt womöglich zu mehr „German Angst“, da die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen u.U. immer stärker gefährdet werden kann. Wenn aber das Denken in Zukunftspotenzialen in der Breite angenommen wird und die Steuerungs- und Kontroll-Systeme stärker zukunftsfähig werden, kann aus der positiv geplanten Zukunft eine selbsterfüllende Vorhersage („self-fulfilling prophecy“) werden und somit zu einer Steigerung der Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der Unternehmen führen.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß und hoffentlich viele neue, wertvolle Einsichten bei der Lektüre dieser Ausgabe der CORPORATE FINANCE!

Ihr Dirk Honold