CORPORATE FINANCE
Kapitalmarktanomalien

Kapitalmarktanomalien

Prof. Dr. Klaus Röder

Prof. Dr. Klaus Röder
hbfm_cf_2018_11-12_m1_a_1286051_a001.png

In diesem Gastkommentar möchte ich Ihnen die wissenschaftlichen Aufsätze präsentieren, die mich in diesem Jahr am meisten beeindruckt haben. Dabei geht es um die Frage, ob die durch wissenschaftliche Autoren aufgedeckten Anomalien am Kapitalmarkt durch Datamining getrieben sind oder Tatsachen darstellen. Kritiker werfen Wissenschaftlern häufig vor, dass bei ausreichend ausdauernder computergestützter Suche auch eine Anomalie gefunden wird. Weiterhin stellt sich die Frage, ob eine erkannte Anomalie auch dauerhaft gewinnbringend genutzt werden kann.

Als Kapitalmarktanomalien werden Beobachtungen des Renditemusters am Kapitalmarkt bezeichnet, die nicht mit den klassischen theoretischen Ansätzen erklärbar sind. Der nach wie vor aktuelle Ansatz zur Erklärung von Renditen, das CAPM, basiert auf theoretischen Arbeiten aus den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts. Die wesentliche Aussage ist, dass die erwartete Rendite von riskanten Investitionen ausschließlich vom nicht-diversifizierbaren Risiko (Beta) abhängt.

Bereits 1981 zeigte Rolf Banz (Journal of Financial Economics 1986 S. 3–18), dass die Marktkapitalisierung einer Aktiengesellschaft einen negativen Einfluss auf die Rendite der Aktie ausübt. Kleine Aktiengesellschaften outperformen risikobereinigt große Aktiengesellschaften. In ihrem 1992 erschienenen Aufsatz (Journal of Finance 1992 S. 427–465) zeigten Eugene Fama und Kenneth French, dass die Marktkapitalisierung einer Aktiengesellschaft und das Verhältnis von Buchwert des Eigenkapitals zu Marktwert des Eigenkapitals im Gegensatz zum Betafaktor die Renditen von US-amerikanischen Aktien beeinflussen. Dieser Aufsatz löste dann die Diskussion aus, ob das CAPM die Renditen von Aktiengesellschaften ausreichend genau erklären kann.

Nun dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis David McLean und Jeffrey Pontieff (Journal of Finance 2016 S. 5–31) zeigten, dass die Publikation von Erkenntnissen zu Anomalien dazu führt, dass sich diese auf dem US-amerkanischen Markt deutlich abschwächen oder sogar ganz verschwinden (post publication decline).

In einem aktuellen Arbeitspapier analysieren Heiko Jacobs und Sebastian Müller (Anomalies across the globe: Once public, no longer existent?, Arbeitspapier Universität Duisburg-Essen) 241 bekannte Kapitalmarktanomalien auf der Basis von Kursdaten aus 39 internationalen Aktienmärkten. Als Erstes widmen sich die Autoren der Frage, ob diese Anomalien als Folge von Datamining gesehen werden können. Deshalb stellen die Autoren die jeweilige empirische Analyse zu jeder Anomalie nach und analysieren, ob die Anomalie auch im Zeitraum bis zur Veröffentlichung der Anomalie weiterhin beobachtbar ist. Dazu aktualisieren Jacobs und Müller die Daten aller 241 Anomalien für 39 Länder. Insbesondere interessiert zunächst der Zeitraum nach dem Ende der ursprünglichen Datenbasis der empirischen Analyse, die zur Entdeckung der jeweiligen Anomalie geführt hat. Sollte die Anomalie bereits in dem Zeitfenster bis zur Publikation der jeweiligen Ergebnisse verschwinden, dann wäre dies ein Hinweis auf Datamining. Die gute Nachricht für Wissenschaftler ist, dass die Autoren keinen Hinweis darauf finden. Die Anomalien bleiben in der Regel bis zur Publikation der Erkenntnisse existent.

Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Publikation einer Anomalie dazu führt, dass diese durch die Kräfte des Kapitalmarktes zerstört wird. Da die Akteure nun die Anomalie kennen, werden smarte Investoren versuchen Strategien zu entwickeln, die diese Anomalie gewinnbringend ausnutzen können. Beispielsweise können die Erkenntnisse von Banz (1986) dazu verwendet werden, kleine US-amerikanische Aktien zu erwerben und dies durch den Leerverkauf großer US-amerikanischer Aktien zu finanzieren. Wenn aber viele Investoren kleine Aktien erwerben, werden die Aktienkurse einmalig steigen, bis die zukünftige erwartete Rendite keine außerordentlichen Gewinne mehr zulässt.

Die Ergebnisse von Jacobs und Müller sind nun für andere als die US-amerikanischen Märkte höchst interessant. Im Gegensatz zu den Ergebnissen in den USA bleiben die Anomalien in der Regel auf den anderen internationalen Märkten auch nach der Publikation weiterhin bestehen. Die Autoren begründen dies mit höheren Kosten für Arbitrage außerhalb US-amerikanischer Aktienmärkte. Auch können Leerverkaufsbeschränkungen verhindern, dass die Marktteilnehmer Erkenntnisse zu Anomalien ausnutzen und dadurch den Effekt marginalisieren. Die Politik könnte dies zum Anlass nehmen, die im Rahmen der Finanzkrise sichtbar gewordene negative Einstellung zu Leerverkäufen zu überdenken. Weiterhin könnte man argumentieren, dass die meisten der Anomalien in den USA aufgedeckt werden. Nur wenn diese nicht ein statistisches Artefakt darstellen, werden sie auch auf den anderen Kapitalmärkten zu beobachten sein. Somit verbleiben für Publikationen auf den anderen Märkten nur dauerhaft existente Anomalien. Als Wissenschaftler finde ich es durchaus positiv, dass wir von dem Vorwurf entlastet werden, dass wir nach Anomalien „baggern“, bis wir sie auch finden.

Ich wünsche Ihnen viele neue, wertvolle Einsichten bei der Lektüre dieser Ausgabe der CORPORATE FINANCE!

Ihr Prof. Dr. Klaus Röder